Ein Trio hebt ab:
Charlie Haden am
Bass und Paul Motian
(Schlagzeug, Percussion)
erweisen sich als konge-
niale Partner in einer For-
mation, die Jarrett schon
1966 gründete, die aber
nur selten auf Tour ging.
Die 1972 entstandenen
Fernsehaufnahmen sind
leider verschollen
gnadenlos zerhäm m ert, als gelte es eine
G lasw and zu zersp littern , u m sogleich
m it dem gospelhaften Them a von „Every-
th in g T hat Lives L am en ts“ das aufge-
w ühlte G em üt zu beruhigen u n d zu v er-
zaubern. V irtuoses Becken- u n d m elo -
diöses G lockenspiel locken den Bass in
den V ordergrund. H ielt sich dieser bisher
eher dezent im H in terg ru n d (was aller-
dings auch d er d u rch w ac h sen e n A u f-
n ah m eq u a litä t g eschuldet ist), so füllt
er jetzt die rechte B ühnenhälfte m it sei-
nem breiten, sonor singenden Ton. Jar-
rett h a t längst d en K lavierhocker v e r-
lassen u n d w idm et sich seinen diversen
P ercussion-G erätschaften, u m sch ließ -
lich m it d er Flöte m editative M elo d ie-
b ö g en zu sp an n en . W ie V o rechos d er
„Spirits“, jener m editativen H om erecor-
d in g -P ro d u k tio n , m it d er Jarrett 1985
ü b errasc h en sollte. G efolgt v o n einem
typischen P iano-O stinato, das leise aus-
k lin g en d ein er V aria tio n des G ru n d -
them as den B oden bereitet.
M it n u r vier, fü n f T ö n e n aus d em
Sopransaxophon gelingt es Jarrett dan n
den Geist O rnette Colem ans zu beschw ö-
ren. F ür H ad en ein H eim spiel u n d fü r
M o tian G elegenheit zu d em o n strieren ,
dass er aus seinem Schlagzeug eine ganz
breite Palette an K langfarben hervorzau-
bern konnte und vielleicht zu U nrecht im
Schatten eines T ony W illiam s oder Jack
de Johnette stand. Jarrett lässt derweil das
Sopran quaken u n d quäken, ja schreien,
dass es die helle Freude ist, bevor H aden
m it seinem unvergleichlichen Spiel sei-
nem M entor Colem an huldigt. D ann w ird
es w ieder erdig, m an riecht förm lich den
bluesigen U rsp ru n g des schw arzen Jazz.
„Take M e Back“, ein Stück, das w ir bis-
h er v o n „E x p ectatio n s“, d em einzigen
CBS-A lbum Jarretts, kennen, endet m it
einem T astenden, der sich auf der Suche
eines Ü bergangs zu seinem „Life, D ance“
schließlich in den „Blauen Engel“ verirrt
und M arlene D ietrichs „Ich bin von K opf
bis F u ß auf Liebe eingestellt“ zitiert.
Z u m in d est a u f d er C D w echselt das
Trio direkt vom Blauen Engel zur Revo-
lutions-R om antik. Charlie H adens „Song
For Che“ ist der H öhepunkt eines Albums,
das leider nicht das gesam te K onzert w ie-
dergibt, weil die R undfunkaufnahm en aus
d em Jahre 1972 n ich t m akellos w aren.
„W ir haben versucht, das Beste aus dem
M aterial herauszuholen , sagt M anfred
E icher, d er dam als die B and w äh ren d
ihrer T our betreute, aber n icht die A uf-
n a h m e n v eran tw o rtete. T ro tz d e m ist
sich der E C M -C hef sicher, m it den alten
N D R -B ändern einen Schatz gehoben zu
haben. B erührende E pisode am Rande:
W ährend Eicher am 11. Juli dieses Jahres
auf dem W eg nach Oslo war, um im Rain-
bow -Studio die Live-CD zu m ischen, ver-
starb Charlie H aden im fernen Los A nge-
les. So geriet das M astering am folgenden
Tag auch zu einer E hrenbezeugung für
den großen Jazzmusiker, der zu den w ich-
tigsten W eggefährten Keith Jarretts zählte
(siehe auch STEREO 9/2014). Es zeugt
von großem Respekt, dass der „Song For
C he“, ein Fixstern im w eiten H aden-K os-
m os, diese großartige CD beenden darf.
Dreizehn M inuten und 40 Sekunden atem -
beraubender Z auber, der m it betörenden
Kastagnetten leise, fast unhörbar ausklingt.
Der Rest ist berauschter Applaus, dem wir
uns heute, 42 Jahre später, n u r dankbar
und ergriffen anschließen können.
R ein er H . N itsch k e
12/2014 STEREO 139
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